LEITBILD DES JSO

Der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen. Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.
Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 15. Brief
Bitte lachen Sie nicht, aber wir halten das Orchester neben dem Kuss, dem Bett und der Heilkunst für eine der wichtigsten Erfindungen der Menschheit. Warum? Deshalb:

In einem Orchester spielen Menschen miteinander und füreinander. Miteinander heißt: sich integrieren können, als Gruppe zu funktionieren, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen. Füreinander heißt: den anderen begleiten zu können, aber auch zu wissen, vom anderen begleitet zu werden. Zu begleiten heißt: mit aller Kraft, mit allem Können, mit allen Sinnen für andere da sein. Begleitet zu werden heißt: von anderen unterstützt, getragen, umsorgt zu werden, zu vertrauen.

In einem Orchester wechselt man zwischen Solo und Tutti, zwischen allein und gemeinsam, zwischen Individualität und Kollektivität. Derjenige, der als Solist über dem Orchesterklang seine Melodie spielt, trägt im nächsten Moment als Teil des Orchesters einen anderen Solisten. Beides muss beherrscht werden.

Individualität ist gut. Denn sie bereichert. Sie sucht das Schöne und riskiert alles. Individualität muss gefördert werden, muss vom Tutti in ihrer immanenten Risikobereitschaft getragen und aufgefangen werden. Kollektivität ist gut. Jeder muss sich nahtlos einfügen, damit sie entsteht. Alle müssen sich aufeinander verlassen – nicht nur im Moment, sondern auch in der jeweiligen persönlichen Vorbereitung, im Üben, im selber besser werden wollen, im Verantwortung übernehmen wollen.

Das Orchester braucht alle Sinne. Man hört, man sieht, man spürt einander. Erst wenn man sich auf andere einlässt, sich gegenseitig wahrnimmt, aufeinander reagiert – besser gesagt: die Bereitschaft entwickelt, aufeinander zu reagieren – erst dann fängt man an, als Orchester zu funktionieren.
Ein Orchester ist ein gesellschaftlicher Mikrokosmos mit allem, was dazugehört. Man führt und muss sich führen lassen, es ist Demokratie und Monarchie gleichzeitig.

Es vergibt laufend Rollen, die es auszufüllen gilt. Je mehr man selbst einbringt, desto wertvoller wird das Ganze. Je wertvoller das Ganze, desto mehr erhält man zurück. Man gibt und erhält.

Ein Orchester beschäftigt sich mit Dingen, denen wahre Schönheit innewohnt: mit Kunst. Kunst ist zweckfrei, und in dieser Zweckfreiheit erst kann das zutage treten, worum es in Wahrheit geht: um das Menschsein. Denn der Mensch ist der Zweck an und für sich.

Ein Orchester verkörpert also mit Leichtigkeit, wofür wir seit tausenden Kriegen kämpfen: Freiheit und Autonomie, Vertrauen und Rücksicht, Verantwortung und Würde.

Sie sehen: Nur wenige Dinge spiegeln die Quintessenz der Menschlichkeit besser als Kunst und Musik und damit verbunden das Symphonieorchester. Nur wenige Dinge vereinen in sich die Wesenszüge der Aufklärung, des Idealismus und der Autonomie besser und nachhaltiger als das orchestrale Musizieren von großer Musik. Es ist daher – im Sinne unserer Kinder, im Sinne des Guten, Wahren und Schönen – nur richtig und logisch, einem Jugendsymphonieorchester jede nur mögliche Unterstützung zukommen zu lassen.

In einem Orchester zu wirken und große Musik zu spielen, verändert und prägt jeden, hinterlässt Spuren – und macht bessere Menschen. Es vermittelt jene Dimensionen, die als wesentlich für Bildung gelten: Selbstorientierung, Aufklärung, historisches Bewusstsein, Ausdrucksfähigkeit, Selbstbestimmung, moralische Sensibilität und poetische Erfahrung.
Begleittext zum Programm

ANTISOWJETISCHE AVANTGARDE

Mit Rodion Shchedrins Carmen-Suite (1967), Alfred Schnittkes Gogol-Suite (1980) und Sofia Gubaidulinas Revuemusik für Symphonieorchester und Jazzband (1976) bringen wir drei Werke auf die Bühne, die äußerlich wenig miteinander zu tun haben. Auf den ersten Blick befremdet derzeit vielleicht die/den eine*n oder andere*n die Tatsache, hier ausschließlich mit Komponist*innen aus der UdSSR zu tun zu haben. Auf den zweiten Blick schaut die Sache allerdings ein wenig komplexer aus.

Shchedrin (*1932) lebt in München, Gubaidulina (*1931) in Schleswig-Holstein, Schnittke (1934–1998) lebte in Frankfurt. Sie gelten gemeinsam mit Edison Denissov (1929–1996), der in Paris lebte, als die bedeutendsten sowjetischen Komponist*innen der Generation nach Prokofiev und Schostakowitsch. Alle emigrierten.

Es lohnt daher ein Blick auf die Denkschule der aus der UdSSR ausgewanderten Künstler*innen und Denker*innen. Ein Ansatz dazu findet sich im russischen Philosophen und Literaturwissenschafter Mihail Bachtin (1895–1975), der in der Literaturkritik das geeignete Werkzeug erkannte, jene philosophischen Topoi zu verhandeln, die anderweitig der Zensur des Stalinismus zum Opfer gefallen wären: Dialogizität, Intertextualität, Polyphonie. Bachtin vertrat die These, mit Fjodor Dostojewski (1821–1881) sei eine Art der Literatur entstanden, die erstmals philosophische, gesellschaftliche, politische und moralische Überlegungen auf künstlerischer Ebene verhandelte. Seine Romane sind mit unzähligen Figuren bevölkert, welche miteinander in Kontakt treten, diskutieren, Weltsichten austauschen. Es sind Liberale, Konservative, Vaterlandstreue, Durchgeknallte usw., die im Dialog eben jene Polyphonie und jenen Pluralismus entstehen lassen, der die exilrussische Intelligenzija bis heute prägt. Oder anders gesagt: Was in westlichen, liberalen Staaten als normal gilt – freie Meinungsäußerung, politischer Widerstand, philosophischer Disput – spielte sich im wenig liberalen Russland zwangsläufig auf der Ebene der Kunst ab. Umso wichtiger, das Werk russischer Künstler*innen genau im Blick zu haben, behandeln sie doch oft jene Themen, die aus diversen Gründen nicht in der Öffentlichkeit oder im geisteswissenschaftlich-universitären Diskurs verhandelt werden können bzw. dürfen.

Ähnlich wie Bachtin argumentierte in seinen Schriften auch der weltberühmte und prägende Filmregisseur Sergej Eisenstein (1898–1948), der mit dem im ukrainischen Odessa spielenden Film Panzerkreuzer Potemkin (1926) einen der wichtigsten und ikonischsten Beiträge zur Filmkunst vorlegte. Seine Montagetechnik funktioniert gänzlich anders als jene des amerikanischen und europäischen Erzählkinos. Während westlichen Filmemachern eher daran gelegen ist, eine Geschichte stringent und verständlich zu erzählen, montiert das russische Kino Einstellungen und Bilder, die in Kombination miteinander einen neuen gedanklichen Inhalt erschließen. Deren Erzählweise ist kollageartig und herausfordernd und soll im Publikum Assoziationsketten auslösen sowie ästhetische Gewohnheiten infrage stellen. Das Gegenteil eines gewöhnlichen Hollywood-Films.

Der aus Riga stammende und nach Oxford emigrierte Philosoph Isaiah Berlin (1909–1979), der als einer der wichtigsten Vertreter des angloamerikanischen Liberalismus gilt, deutete dies – so Wolfram Eilenbergs These – in seinem weltberühmten Essay über Leo Tolstoi Der Igel und der Fuchs. »Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß ein großes Ding.« Füchse bestaunen die unendliche Pluralität, während Igel versuchen, alles auf ein gesamtes System zurückzuführen. Dies sei – so Eilenberg – eine Spannung, in der die russische Gesellschaft und Geistesgeschichte seit jeher stecke.
Beispielhaft bildet sich dies im Moskauer Konzeptualismus ab, einer Kunstströmung, die ausgehend von Intellektuellen wie Boris Groys (*1947) in den späten 1970ern entstand und – geprägt von Intertextualität und dem Verschwinden der Grenzen zwischen Massen-, Pop- und Hochkultur – das klassische russische Kunstverständnis nachhaltig stresste. Deren bekannteste Vertreter*innen mussten emigrieren (z. B. Ilja Kabakow) bzw. waren und sind dauernden Repressalien ausgesetzt. So wurde etwa Dmitri Prigow (1940–2007), der heute von den Pussy-Riots zitiert wird, laufend vom KGB drangsaliert und inhaftiert. Auch Wladimir Sorokin (*1953), der international zu den bedeutendsten Schriftsteller*innen der Gegenwart zählt und seit Jahren als Nobelpreiskandidat gehandelt wird, wurde in Russland des Öfteren zensuriert bzw. verhaftet. Putinnahe Gruppen organisieren sogar öffentliche Büchervernichtungen von Sorokins postmodernen, satirischen und grotesken Romanen. Wahrscheinlich ist Sorokin ein Fuchs, der zeitlebends ein Igel sein will – indem er mittels absurd-komischer und verstörender Science-Fiction den Finger immer in die gleichen Wunden legt: Kleptokratie, staatliche Gewalt, Unfreiheit, Lüge.

Jedenfalls zeigen sich Parallelen zum ukrainischen Schriftsteller Nikolai Gogol (1809–1852), dem Alfred Schnittke in seiner Gogol-Suite ein Denkmal setzte. In seinen Komödien und bizarren, phantastischen Geschichten arbeitete sich Gogol satirisch an der grassierenden Korruption, Verlogenheit und Selbstsucht im zaristischen Russland ab. In Schnittkes Suite – einem kunterbunten Haufen aus Zitaten und waghalsigen Montagen – geschieht Ähnliches: Es beginnt lustig und skurril; doch irgendwann weiß man nicht mehr, ob man lachen oder sich fürchten oder traurig sein soll.
Igel oder Fuchs?

Rodion Shchedrin drückte der russischen Gesellschaft auf andere Art seinen Stempel auf. Seine Carmen-Suite wurde nach ihrer Uraufführung verboten, denn sie brach mit beinahe allem, was die Schwanensee-geeichte russische Ballettkultur auszeichnete. Diese Carmen brachte erstmals viel nackte Haut auf die Bühne, die Tänzer*innen zeigten sich in unzweideutig nicht jugendfreien Posen. FSK 18 – für die damalige Zeit wohlgemerkt. Im Nachgang stellt Shchedrins Carmen für viele Rezensent*innen den Auftakt zur sexuellen Revolution in Russland dar. Trotz aller damaliger Zensur vergeht laut Shchedrins Notenverlag gegenwärtig kein Tag, an dem seine Carmen-Suite nicht irgendwo auf der Welt aufgeführt wird – meist als Konzertstück, seltener als Ballett.

Auch Sofia Gubaidulinas Werke waren in der UdSSR jahrelang verboten, obgleich sie selbst im Ausland mit Preisen überhäuft wurde. Man liegt wahrscheinlich nicht falsch, sie als bedeutendste lebende weibliche Komponistin zu bezeichnen. Ihre sphärischen und oft religiös geprägten aber klanglich und inhaltlich ungemein intensiven Werke sind aus ernstzunehmenden Konzertprogrammen nicht mehr wegzudenken. Umso erstaunlicher ist ihre Revuemusik für Symphonieorchester und Jazzband. Einerseits ist sie – völlig untypisch für Gubaidulinas Œvre aber ganz im Sinne des Moskauer Konzeptualismus’ – eine erstaunlich trashige Mischung aus orthodoxem Gesang, Jazzmusik, amerikanischer Filmmusik und russischer Lyrik. Vielleicht erinnert man sich dabei an das Stimmengewirr eines Dostojewski, aber auf jeden Fall hört man, wie sich die russische Jugend der 1970er-Jahre ein Leben in Freiheit vorgestellt haben mag. Andererseits – und das ist wirklich erstaunlich angesichts der Bedeutung Gubaidulinas – wurde dieses Werk in Österreich noch nie aufgeführt. Warum das so ist, darüber lässt sich nur spekulieren. Egal: Wir vom JSO Tulln spielen die österreichische Erstaufführung dieses Werks. Wir freuen uns extrem darauf.

PRESSETEXTE

deutsch

Wir sind das Jugendsymphonieorchester Tulln, ein Haufen wilder, begabter, schwer zu beherrschender, aber dafür umso energischer musizierender Jugendlicher aus Tulln und den Trabantenstädten rundum (Heiligeneich, Wien, Wolkersdorf …). Wir spielen Musik von Barock bis heute, Auftragskompositionen, die schönsten und besten Werke der großen Meister, mit und ohne Vibrato, auf modernen oder authentischen Instrumenten, in Sälen, Kirchen und auf Tourneen – und immer mit vollem Einsatz.

Wie es dazu kam? Angefangen hat alles 2014. Das ist eigentlich gar nicht so lange her. Aber damals begann das JSO sich zu öffnen, und zwar nach allen Seiten: es wurde überregional, setzte auf hohe Qualität der Musikstücke, deren Interpretation, auf intensive Proben und eine nach und nach tief verankerte soziale Basis. Das JSO entwickelte sich so von einem Musikschulangebot zu einem Orchester »von uns und für uns«.

Dieser fortan von wachsendem jugendlichem Ehrgeiz, Größenwahn und Leichtsinn, aber auch von unserer großen Liebe zur Musik und von unserer freundschaftlichen Verbundenheit untereinander getragene Schwung brachte uns gleich einmal in den Musikverein und in die Staatsoper, um dort aufzutreten. Wow! Klar, alles war noch klein und wackelig, aber abgesehen davon, dass Tom Cruise zeitgleich in der Oper war, um dort Mission Impossible zu drehen und all unsere Mädchen völlig aus dem Häuschen gerieten, war der Auftritt eine Initialzündung: Wir sind das JSO Tulln. Die Kunst ist zurück. Da geht was. Es folgten eine Italientournee, eine Konzertreise nach Danzig, eine Tournee an die Cote d´Azur, regelmäßige Neujahrskonzerte, eine Handvoll Aufnahmen, eine Sendung über uns im Radio Ö1, eine Reise nach Island, auf der wir von einem ganz tollen Filmteam begleitet wurden, das eine Doku über uns gedreht hat, sowie jetzt gerade eine Reise nach Krakau. Sogar Kompositionsaufträge haben wir vergeben. Wahnsinn eigentlich, wenn man so zurückdenkt … Angefangen haben wir zu fünfzehnt, jetzt sind wir siebzig MusikerInnen. Angefangen haben wir mit dem Valse triste von Sibelius, und jetzt wünschen wir uns Symphonien von Beethoven, Schostakowitsch oder Bruckner von unserem Dirigenten. Und wissen Sie was? Auch die kriegen wir hin! :-) Stay in touch!

englisch

We are the youth symphony orchestra Tulln, a bunch of wild, talented, hard-to-control, but all the more energetic performing youngsters from Tulln and the satellite towns around (Heiligeneich, Vienna, Wolkersdorf ...). We play music from Baroque to the present day, commissioned compositions, the most beautiful and best works of the great masters, with and without vibrato, on modern or authentic instruments, in halls, churches and on tours - and always with full commitment.

How did that happen? It all started in 2014. That's not that long ago. But at that time the JSO began to open up on all sides: it became supraregional, relied on high quality of music, its interpretation, on intense rehearsals and a gradually deep-rooted social base. The JSO thus evolved from a music education offer to an orchestra »from us and for us«.

From this moment onward youthful ambition, megalomania and carelessness, as well as our great love of music and our friendship with each other, we were immediately taken to the Musikverein and the Staatsoper to perform there. Wow! Sure, everything was still small and wobbly, but apart from the fact that Tom Cruise was at the same time in the opera to shoot Mission Impossible and all our girls were thrilled, the gig was an initial spark: We are the JSO Tulln. The art is back. There's something going on. It was followed by an Italian tour, a concert tour to Gdansk, a tour of the Cote d'Azur, regular New Year's concerts, a handful of recordings, a broadcast about us on the radio Ö1, a trip to Iceland, where we were accompanied by a very great film team, that has made a documentary about us, and now just a trip to Krakow.

We have even commissioned composition assignments. Insanity, if you think so back ... We started at fifteen, now we are seventy musicians. We started with Valse triste by Sibelius, and now we wish for symphonies by Beethoven, Shostakovich or Bruckner from our conductor. And you know what? We'll get them too! :-) Stay in touch!